
Ausgangslage
Die Schweiz ist leider eines der familienfeindlichsten
Länder der zivilisierten Welt. Sicher haben auch Sie bereits im privaten
Bereich Diskussionen mit Bekannten geführt, die Aussagen im folgenden Stil gemacht
haben: «Ich bin nicht sicher, ob es sich noch lohnt, Kinder zu haben.» Oder:
«Zuerst will ich mich einige Jahre um meine Karriere kümmern, und danach
schauen wir dann vielleicht noch wegen dem Nachwuchs. Und zuerst will ich auch
noch die Welt kennenlernen und reisen.» Nicht ohne Grund ist der Anteil
von Kindern ausländischer Eltern in der Schweiz in den Schulklassen so
überproportional gross. Es existiert zweifellos ein kultureller Unterschied
zwischen der Schweiz und dem Ausland in dieser Frage, und dies notabene,
obwohl die ausländischen Familien in der Schweiz üblicherweise über weniger
Geld verfügen als die schweizerischen. Es ist erstaunlich, wie wenig sich
Politik und Bevölkerung mit dieser Sinnkrise befassen, die an den Grundfesten
der menschlichen Existenz rührt und gegen die Natur des Lebens gerichtet ist.
Die Statistiken (Abb. 1 und 2) der OECD aus dem Jahr 2016 zeigen, ein wie
hartes Pflaster für Familien die Schweiz im Vergleich mit andern zivilisierten
Staaten ist, und zwar sowohl für Frauen als auch für Männer («Paid Leave» =
bezahlter Urlaub nach Geburt eines Kindes):
Nicht ganz unerwartet ist die Schweiz in beiden Statistiken am hintersten Ende der Ranglisten zu finden. Zu bemerken bei der Skala der Abbildungen 1 und 2: Es ist hier die Rede von Wochen bezahlten Urlaubs, nicht von Tagen! Mit andern Worten haben einige zivilisierte Staaten eine höhere Anzahl Wochen Elternzeit als die Schweiz Tage hat!
Kein Wunder also, dass die Schweiz ohne Zuwanderung aussterben würde. Wollen wir das wirklich? Sehen die politischen Ziele der Schweiz tatsächlich so aus? – Oder fehlt es in der Bevölkerung ganz einfach an der bewussten Wahrnehmung des Problems?aktuell von grossen Unternehmen, Kantonen und Städten links überholt.
Soviel also generell zur Situation der Familienpolitik in der Schweiz. Wie sieht nun aber im Speziellen die Situation der Väter in der Schweiz aus? Die obenstehende Grafik der OECD von 2017 (Abb. 3) zeigt auf, wie gross der Anteil der Väter an der bezahlten Elternzeit in den zivilisierten Staaten ist. Auch Sie werden «Switzerland» in der Abbildung 3 nicht gefunden haben. Das liegt daran, dass der Anteil der Schweizer Väter so klein ist, dass er bei dieser Auflösung nicht mehr in blauer Farbe dargestellt werden kann(!). Soviel also zur Situation der Väter und Männer in der Schweiz. Erstaunlich, dass sich weder in Bundesbern noch in der Bevölkerung jemand dafür schämt.
Abstimmungsresultat
Die zur Abstimmung gelangte Vorlage mit zwei Wochen Vaterschaftsurlaub war der Gegenvorschlag des Bundes zur Volksinitiative des Schweizerischen Gewerkschaftsverbands, die ursprünglich vier Wochen vorgesehen hatte. Dagegen wurde von einem Referendumskomitee, das aus Exponenten der SVP und anderer bürgerlicher Parteien bestand, das Referendum ergriffen. Bei der entsprechenden Unterschriftensammlung wurden unlautere Mittel angewendet, da sonst nicht genügend Unterschriften zusammengekommen wären. Unterschriftensammler informierten Passanten unrichtig, dass sie sich mit ihrer Unterschrift für den Vaterschaftsurlaub einsetzen würden, statt dagegen (!), wir berichteten in den IGM Nachrichten bereits darüber. Mit Ach und Krach wurden so die notwendigen Unterschriften erreicht, und weil es weder eine Straftat ist, bei einer Unterschriftensammlung Passanten zu belügen, noch sonst irgendwie unrechtmässig ist, wurde das Referendum tatsächlich als gültig anerkannt (!). Die Stimmbürger hatten somit zu entscheiden.
Der Vaterschaftsurlaub wurde am 27. September 2020 mit einem klaren Mehr von 60,3 Prozent angenommen. Die Verteilung der Stimmen über die Kantone zeigt die Abb. 4.
Klar erkennbar ist hier der Röstigraben sowie dieses Mal auch der Risottograben: Die Vorlage stiess ausserhalb der Deutschschweiz auf eine ausserordentlich hohe Zustimmung. Beispielsweise belief sich in den Kantonen Waadt und Genf der Ja-Anteil auf ca. 80 Prozent der Stimmbürger, und auch im Kanton Tessin waren zwei von drei Stimmenden für den Vaterschaftsurlaub. In der Deutschschweiz sticht der Gegensatz zwischen urbanen und ländlichen Gegenden hervor. Es gilt, dass die Vorlage in den urban geprägten Gegenden bedeutend positiver aufgenommen wurde als in den ländlichen. Was wahrscheinlich auch eine Rolle spielt, ist vermutlich die konfessionelle Prägung: Es scheint tendenziell in katholisch geprägten Gegenden eine stärkere Ablehnung der Vorlage vorhanden zu sein als anderswo. Weitere interessante Kriterien sind Geschlecht und Alter. Eine Meinungsumfrage gibt darüber Aufschluss, siehe Abb. 5 unten. Keine Überraschung ist, dass die Zustimmung zum Vaterschaftsurlaub in der jüngeren Bevölkerung grösser ist, weil die ältere Bevölkerung die Geburten mehrheitlich schon «hinter sich» hat. Aus dem Blickwinkel der IGM als einer Männerorganisation erscheint es ausserordentlich bedenklich, dass ausgerechnet die Zustimmung der Männer zum Vaterschaftsurlaub kleiner ist als diejenige der Frauen. Nicht zum ersten Mal kann man erkennen, dass die IGM mit ihren familienpolitischen Zielen in der weiblichen Hälfte der Bevölkerung mehr punkten kann als in der männlichen – eine verkehrte Welt.
Ausblick
Der Vaterschaftsurlaub stellt aus Sicht der IGM nur einen ersten Schritt dar. Unser langfristiges Ziel besteht aus einer bezahlten Elternzeit – und zwar paritätisch, d.h. sowohl für Mütter als auch Väter. Die Elternzeit ist für Väter wichtig, damit ihre Beziehung zu ihren Kindern besser als bisher initialisiert werden kann. Für Mütter ist sie wichtig, damit sie nach Geburt eines Kindes beruflich weniger den Anschluss verpassen. Damit ist die Elternzeit auch ein Mittel zur Bekämpfung des Fachkräftemangels, der nach der Pensionierung der geburtenstarken Jahrgänge wohl eintreffen wird. Die IGM befürwortet im Sinne einer Arbeitshypothese oder eines Richtwerts den Vorschlag der EKFF (Eidgenössische Koordinationskommission für Familienfragen) von 2018, den wir bereits in den IGM Nachrichten 2|2019 veröffentlichten (Abb. 6).
Für eine derartige Elternzeit müsste die EO ausgebaut werden. Es ist klar, dass im gegenwärtigen, von der Corona-Pandemie und den Diskussionen um eine AHV-Lücke geprägten Umfeld eine solche Vorlage auf Bundesebene keine Chance hätte. Die IGM erwartet deshalb, dass in den nächsten Jahren mehrere «Insellösungen» bei der Elternzeit entstehen werden. Einerseits werden diverse Firmen – voraussichtlich vor allem grössere sowie öffentlich-rechtliche Betriebe – Lösungen für die Elternzeit entwickeln, um so ihre Attraktivität auf dem Stellenmarkt zu steigern.
Andererseits erwarten wir auch auf regionaler Ebene, d.h. auf Stufe der Kantone oder auf Stufe grosser Städte, die Einführung von Elternzeit-Modellen. Erst danach werden voraussichtlich die dannzumal verschiedenen Modelle der Elternzeit in einer Bundeslösung zusammengeführt werden, ähnlich wie dies 1985 bei der Einführung des BVG (Bundesvorsorgegesetz) der Fall war, als die diversen, auf freiwilliger Basis geführten Pensionskassen Schweiz-weit harmonisiert wurden. Es wird also noch ein langer Weg zum Ziel sein. Die IGM setzt sich aber ganz klar schon heute für eine Elternzeit in der Schweiz ein.