Negation
Es ist ein niederschmetternder Satz für alle Elternteile, meistens Väter, die von einem Kind nach einer Trennung oder Scheidung entfremdet worden sind: «Das Parental Alienation Syndrom (PA) sollte in den Gerichtsgutachten nicht erscheinen, da es dazu keine wissenschaftliche Grundlage gibt.» Der Satz, der das Phänomen Eltern-Kind-Entfremdung negiert, steht in einem neuen Leitfaden, den die Kantone zuhanden der Gerichte und der Sozialinstitutionen am Anfang des Jahres diskret und ohne Diskussion mit den betroffenen Kreisen herausgegeben haben.
«Kontakt nach häuslicher Gewalt? Leitfaden zur Prüfung und Gestaltung des persönlichen Verkehrs für Kinder bei Häuslicher Gewalt» heisst das Papier, das die bis jetzt unbekannte Schweizerische Konferenz gegen häusliche Gewalt (SKHG / CSVD), ein neues Gremium der Kantone, erarbeitet hat. Problematisch ist vor allem der Anhang 11:
«Das Parental Alienation Syndrom (PA | EKE) und Vorwürfe der elterlichen Entfremdung im Zusammenhang mit Gewalt in Ehe und Partnerschaft ». Dieser Anhang ist bis jetzt nur auf Französisch veröffentlicht worden; eine deutsche Version sollte laut SKHG aber bald erscheinen. Auf Nachfrage erfährt man, dass dahinter Fachpersonen stecken, «die sich mit häuslicher Gewalt vertieft auseinandersetzen und viel Wissen aus dem operativen Feld mitbringen.» Kinder- und Jugendpsychiater oder spezialisierte Richter sind nicht beigezogen worden. Noch weniger die Väter- und Männerorganisationen. Der neue Leitfaden ist auf Anregung des Grevio nach seinem Evaluationsbericht 2022 entstanden. Das Grevio ist das Organ des Europarates, das die Einführung der Istanbul-Konvention gegen häusliche Gewalt in der Schweiz überwacht.
«Ein Affront für alle Väter und Mütter, die trotz Besuchsrecht keinen Kontakt zu ihren Kindern haben können», sagt Patrick Robinson, Sprecher der Westschweizer Väterorganisationen CROP und Mitglied der Eidgenössischen Kommission für Familienfragen (EKFF). «Der Leitfaden ist einseitig und verurteilt das Phänomen Eltern-Kind-Entfremdung, ohne die zahlreichen Studien dazu zu berücksichtigen. Er verzerrt ausserdem das Bild der Eltern-Kind-Entfremdung, indem er das Phänomen einzig und allein im Kontext von familiärer Gewalt darstellt. » Ein Leitfaden, der umso problematischer ist, als Eltern in Trennungssituationen oft vorgeschobene Gewaltanschuldigungen vor Gerichten gelten lassen. Dass es Eltern-Kind-Entfremdung durchaus gibt, dokumentieren seit Jahren zahlreiche Kinder- und Jugend-Psychiater, nicht zuletzt die Psychologin Liselotte Staub in ihrem neuen Buch «Das Wohl des Kindes bei Trennung und Scheidung: Grundlagen für die Praxis der Betreuungsregelung » (Hogrefe, 2023). «Wenn Eltern sich trennen, sind die Kinder oft die Leidtragenden und laufen Gefahr, durch Loyalitäts- oder Elternkonflikte schwerwiegende psychische Störungen zu entwickeln », schreibt die Expertin. Studien schätzen, dass nach ungefähr 10% der Scheidungen in der Schweiz ein Elternteil von einem Kind ganz oder teilweise entfremdet wird.
Die Fronten verhärten sich
An einem Treffen, das von Pro Familia am 31. Mai 2023 unter dem Titel «Eltern-Kind-Entfremdung – was bedeutet das? Mögliche Ursachen und Folgen. Wie kann man diese vermeiden?» in Bern organisiert wurde, ist klar geworden, dass das Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung immer mehr zwischen die Fronten gerät. Auf der einen Seite die Gleichstellungsbüros, die Gewaltmediziner und die Kantonsregierungen, die Mütter und Kinder vor häuslicher Gewalt schützen wollen. Auf der anderen Seite die Väterorganisationen und die Kinder- sowie Jugendpsychologen und -psychiater, die die Wichtigkeit betonen, dass Kinder nach Trennungen den Kontakt zu beiden Elternteilen behalten. An dem Anlass in Bern sprach unter anderen die Psychologin Liselotte Staub. Die Bernerin erklärte, warum ein Kind dazu kommen kann, seinen Vater oder seine Mutter zu entfremden. «Bei starken Konflikten zwischen sich trennenden Eltern hat das Kind die Tendenz, den Elternteil auszuschliessen, von dem sich das Kind am wenigsten abhängig fühlt oder den das Kind als Opfer wahrnimmt oder als schwächer betrachtet. Die Mutter oder der Vater kann den Entfremdungsprozess fördern, indem sie/er regelmässig schlecht über den anderen Elternteil redet», erklärte Liselotte Staub. Eine entgegengesetzte Sicht vertrat Nathalie Romain-Glassey, Chefin der Einheit Gewaltmedizin im Kantonsspital Lausanne (CHUV). Für sie sei es «riskant», das Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung nach Trennungen zu berücksichtigen. Von Entfremdung zu sprechen, sei für die Profis verlockend, denn das sei einfacher zu untersuchen, als ob es in einer Familie zu Gewalt gekommen sei, sagte Frau Romain-Glassey. Aus Sicht der Ärztin sollten die Behörden im Gegenteil immer davon ausgehen, dass die Kinder einen guten Grund haben, den Kontakt zu einem Elternteil abzulehnen. «Die Gewalt zwischen den Elternteilen ist einer der häufigsten Gründe für Kontaktabbrüche. Dieser Grund sollte systematisch in Erwägung gezogen und untersucht werden. Wenn die Behörden im Gegenteil das Recht des gewalttätigen Elternteils unterstützen, Kontakte mit seinen Kindern nach der Trennung weiterzuführen, gehen sie das Risiko ein, dass die Kinder der Gewalt dieses Elternteils weiterhin ausgesetzt werden. » Laut Ärztin Romain-Glassey sollten entsprechend die Empfehlungen vom Grevio ernst genommen werden, und der neue Leitfaden der Kantone sollte in die Praxis umgesetzt werden.
Kinder, die Väter ins Gefängnis besuchen
Interessant in diesem Kontext sind die Erfahrungen vom ehemaligen Luzerner Familienrichter Bruno Roelli, der seit seiner Pensionierung als Berater bei der Kescha arbeitet, einer Anlaufstelle für Kindes- und Erwachsenenschutz. In dieser Rolle begleitet Bruno Roelli regelmässig Kinder zu Vätern, die früher gewalttätig wurden. «Es gibt Kinder, die sogar ins Gefängnis ihren Vater besuchen gehen, weil es für sie wichtig ist, den Kontakt zu behalten. Viele Kinder wollen Kontakt mit den Eltern behalten, obwohl Gewalt in der Familie war. Es ist selten, dass ein Kind von sich aus den Kontakt zu einem Elternteil abbricht. Die Kinder lieben ihre Eltern und gehen viele Risiken ein, um mit ihnen in Kontakt zu bleiben», sagte Roelli am Treffen der Pro Familia. Laut Roelli sind die Behörden und die Gerichte oft machtlos, wenn nach einer Trennung Gewaltvorwürfe gemacht werden. Man sollte nicht zu viel von gerichtlichen Untersuchungen und Gutachten erwarten. «In vielen Fällen können Übergriffe oder Gewaltausbrüche nicht bewiesen werden, aber man kann sie auch nicht ganz ausschliessen. In diesem Fall verzichtet man eher auf das Besuchsrecht.» Für Väter, die mit Gewaltanschuldigungen konfrontiert sind und ihre Kinder trotz Besuchsrecht nicht mehr sehen können, kann die Situation sehr schwierig werden, stellte der ehemalige Richter fest. «In der Schweiz schickt man keinen Polizisten, um die Kinder aus den Armen ihrer Mutter zu entreissen. Man könnte die Kinder an einem neutralen Ort platzieren – Pflegefamilie oder Heim – aber das macht man auch nicht, denn so würden die Kinder auch ihr zweites Elternteil verlieren.»
«Loslassen lernen»
Bruno Roelli empfiehlt den Vätern, die in solch ausweglose Situationen geraten, loszulassen. «Nur so kann sich die Situation entspannen. Es kann sein, dass die Kinder später den Kontakt wiederaufnehmen wollen.» Statt das Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung als unwissenschaftlich zu kritisieren, sollten die Kantone eher die Rahmenbedingungen schaffen, um Elternkonflikte zu deeskalieren, damit die Eltern auch nach einer Trennung Eltern bleiben. «Das Interesse des Kindes sollte in den Vordergrund rücken», sagte Roelli. Gewisse Kantone haben angefangen in diese Richtung zu arbeiten, indem sie Modelle wie «Kind im Blick» oder das Cochem-Mediationsmodell einführen. So argumentiert auch Patrick Robinson, der Vertreter der Westschweizer Väterorganisationen und Mitglied der Eidgenössischen Kommission für Familienfragen (EKFF). «Eltern in Trennung sollten zu Kursen und in Mediationen geschickt werden, damit sie Lösungen erarbeiten und so lange Streits vor Gerichten vermeiden können.» Patrick Robinson setzt sich dafür ein, dass der neue Leitfaden der Kantone breit diskutiert wird und grundlegend überarbeitet wird. In der EKFF wird im Moment diskutiert, wie am besten darauf reagiert werden kann. Die deutsche Version des Anhangs 11 ist noch nicht veröffentlicht, aber sie sollte es laut SKHG bald werden.