Das Bundesgericht sagt:
Leben Eltern getrennt, ist festzulegen, wie sie ihre Kinder betreuen. Bei einer Betreuung des Kindes durch die Eltern zu ungefähr gleichen Teilen spricht man von „alternierender Obhut“. Auf den 1. Juli 2014 wurde im Zivilgesetzbuch (ZGB) als allgemeiner Grundsatz die gemeinsame elterliche Sorge eingeführt. Mit der gemeinsamen elterlichen Sorge steht die konkrete Ausgestaltung des Modells zur täglichen Betreuung der Kinder noch nicht fest. Jedenfalls auf Antrag eines Elternteils muss der Richter bei getrennt lebenden Eltern prüfen, ob eine alternierende Obhut in Frage kommt. Das Bundesgericht legt in zwei aktuellen Entscheiden Kriterien zur Prüfung dieser Frage fest. Entscheidender Faktor ist immer das Wohl des Kindes. In der Kinderpsychologie finden sich verschiedene Meinungen zur alternierenden Obhut im Wechselmodell (wo das Kind abwechselnd am Wohnort des jeweiligen Elternteils lebt); teils sprechen sich diese mehr oder weniger absolut für oder wider dieses Betreuungsmodell aus. Aus kinderpsychologischen Studien lassen sich für eine Beurteilung im Einzelfall allerdings kaum generelle Schlüsse ziehen. Ob die alternierende Obhut in Frage kommt und ob sie sich mit dem Kindeswohl verträgt, ist vielmehr jeweils gestützt auf eine die konkreten Umstände berücksichtigende Prognose zu beurteilen. Grundsätzlich kommt die alternierende Obhut nur dann in Frage, wenn beide Eltern erziehungsfähig sind. Weiter erfordert die alternierende Obhut organisatorische Massnahmen und gegenseitige Information der Eltern. Das setzt voraus, dass die Eltern fähig und bereit sind, in den Kinderbelangen zusammen zu kommunizieren und zu kooperieren. Zu berücksichtigen ist weiter die geografische Situation, namentlich die Distanz zwischen den Wohnungen der Eltern. Ebenfalls eine Rolle spielt die Stabilität, die eine Weiterführung des bisherigen Betreuungsmodells für das Kind gegebenenfalls mit sich bringt. Zusätzliche Gesichtspunkte sind die Möglichkeit der Eltern, das Kind persönlich zu betreuen, das Alter des Kindes, seine Beziehungen zu Geschwistern und seine Einbettung in ein weiteres soziales Umfeld. Sofern das Kind hinsichtlich der Betreuungsanteile der Eltern einen Wunsch ausdrückt, ist diesem Beachtung zu schenken, auch wenn es bezüglich der Frage der Betreuungsregelung noch nicht urteilsfähig ist. Während die alternierende Obhut in jedem Fall die Erziehungsfähigkeit beider Eltern voraussetzt, sind die anderen Beurteilungskriterien oft voneinander abhängig und je nach den konkreten Umständen von unterschiedlicher Bedeutung.
In den beiden aktuellen Fällen hat das Bundesgericht über Beschwerden gegen Urteile des Thurgauer Obergerichts und des Genfer Kantonsgerichts entschieden. Diese hatten im Rahmen von Eheschutzmassnahmen gegen eine alternierende Obhut der Eltern entschieden und die Obhut jeweils der Mutter zugesprochen, unter Einräumung eines Besuchsrechts für den Vater. Bezüglich des ersten Falles heisst das Bundesgericht die Beschwerde des Vaters wegen willkürlicher Beweiswürdigung durch die Vorinstanz teilweise gut und weist die Sache zur Neubeurteilung zurück. Im zweiten Fall weist es die Beschwerde des Vaters ab.
Medienmitteilung des Bundesgerichts Lausanne | 20. 10. 2016 | Die Urteile sind
auf www.bger.ch / veröffentlicht
Kommentar IGM
Die IGM stuft die vorliegende Medienmitteilung des Bundesgerichts als einen Schritt in die richtige Richtung ein. Beispielsweise wird richtigerweise festgestellt, dass die geografische Situation eine wichtige Voraussetzung zur alternierenden Obhut darstellt.
Was wir aber anders sehen: Die alternierende Obhut ist grundsätzlich bei nicht zusammen lebenden Eltern immer richtig und immer im Interesse des Kindes, ausser es liegen im Ausnahmefall spezielle Verhältnisse vor, die dagegen sprechen. Somit müssten die Gerichte die alternierende Obhut immer anordnen, ausser es liegt ein Antrag dagegen vor, der stichhaltig begründet ist. Das Bundesgericht gibt vor, das Wohl des Kindes als entscheidenden Faktor für die alternierende Obhut heranzuziehen. Dies trifft aber leider inhaltlich in vielen Fällen gar nicht zu, indem in vielen Urteilen das Wohl der Mutter als sogenanntes „Wohl des Kindes“ verkauft wird.
Die einseitige Fokussierung des Bundesgerichts auf das sogenannte Wohl des Kindes ist zudem – sogar wenn sie tatsächlich gelebt würde – sachlich falsch: Zum Familiensystem gehört nicht nur isoliert das Kind, sondern auch seine Eltern gehören ganz wesentlich dazu. Denn da das Familiensystem stark beziehungsorientiert ist, hat auch die Befindlichkeit der Eltern einen grossen Einfluss auf diejenige des Kindes. Es ist von Natur aus eine starke Wechselwirkung zwischen Kind und Eltern vorhanden.
Und aus der Perspektive der Eltern ist es eine Selbstverständlichkeit, dass in zivilisierten Staaten Kinder einem Elternteil nicht einfach so weggenommen werden … sollte es zumindest sein, wenn man die europäische Menschenrechtskonvention liest … Die Überlegungen haben zudem weitere Mängel: Was passiert, wenn die Mutter weniger erziehungsfähig ist als der Vater? Praktiker wissen es schon, dann ist mit Bestimmheit wieder das Geschlecht das Kriterium und nicht die hier angegeben Erwägungen.
Zusammenfassung
Die Kriterien sind:
- Die Erziehungsfähigkeit der Eltern. Dieses Kriterium ist grundsätzlich eine zwingende Voraussetzung für die Betreuung der Kinder, sowohl in einer alleinigen als auch in einer alternierenden Obhut.
- Die persönliche Beziehung des Kindes zu den Eltern.
- Die Möglichkeit der Eltern, das Kind persönlich zu betreuen.
- Die Fähigkeit und Bereitschaft der Eltern, in Kinderbelangen zu kommunizieren und zu kooperieren.
- Die Bereitschaft, den Kontakt zum anderen Elternteil zu fördern.
- Das Alter des Kindes.
- Die geographische Situation; namentlich die Distanz zwischen den Wohnungen wie auch diejenige zur Schule oder dem Kindergarten.
- Die Stabilität des örtlichen und sozialen Umfelds.
- Die Stabilität, welche die Weiterführung der bisherigen Regelung mit sich bringt.
- Die Beziehung zu Geschwistern, Stief- und Halbgeschwistern.
- Der Wille des Kindes.